Von 2000 auf 7000


Podiumsgespräch mit Dr. Nikolaus Müller, dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts Augsburg, über die Überforderung der Gerichte durch Asyl und Abschiebung

Er und seine Kollegen sprechen Recht darüber, dass eine Kommune (wie Dinkelscherben im Landkreis Augsburg) ihr Trinkwasser chloren muss. Sie verfügen, dass die damalige AfD-Chefin Frauke Petry nicht im Augsburger Rathaus sprechen darf. Sie legen fest, wo Hunde an die Leine müssen. Klassische Urteile eines Verwaltungsgerichts (VG), im Speziellen dessen aus Augsburg. Dort ist seit gut drei Jahren Dr. Nikolaus Müller als Präsident im Amt. Der Fokus seines Hauses hat sich in dieser Zeit erheblich verschoben: Zahlreiche Anträge in Sachen Asyl haben dem Augsburger ebenso wie praktisch allen deutschen Verwaltungsgerichten eine kaum zu erwartende Mehrarbeit beschert.

Jetzt stattete Präsident Müller dem Augsburger Presseclub einen Besuch ab und unterhielt sich mit Moderator Winfried Züfle (früherer Politik-Redakteur der Augsburger Allgemeinen) über eben diesen Themenkomplex: Asyl, Genfer Konvention, Abschiebung: Ist die Justiz überfordert? 

Müller, geboren in Augsburg, aufgewachsen in Stadtbergen, trat 1991 als Proberichter am VG Augsburg in den bayerischen Staatsdienst ein. Nach eineinhalb Jahren wechselte er an das Landratsamt Aichach-Friedberg und vier Jahre später zur Regierung von Schwaben. 1998 ging Müller zurück an das VG Augsburg und arbeitete ab 2001 drei Jahre lang an der Obersten Baubehörde. Anschließend wurde er als Richter zum bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München berufen und kehrte 2007 als Vorsitzender Richter an das VG Augsburg zurück. 2010 wurde Müller zum Vizepräsidenten, 2015 als Nachfolger von Ivo Moll zum Präsidenten des VG Augsburg ernannt. 

Weil er das Ausländer- und Asylrecht spannender fand als Bauangelegenheiten, habe er sich auf dieses Rechtsgebiet fokussiert, so Müller, der die Ausländerkammer am Augsburger VG leitet. Freilich war anfangs so nicht abzusehen, dass sich im Anschluss an die deutsche Quasi- Grenzöffnung ab dem Sommer 2015 mit über einer Million Flüchtlingen auch eine Flut von Prozessen über die Verwaltungsgerichte ergießen würde. Statt der bis dato rund 2000 Fälle pro Jahr seien es am VG Augsburg bis zu 7000 und heute immer noch über 5000 geworden. Das Gericht sei aufgestockt worden – heute umfasst es neun vorsitzende und rund 25 beisitzende Richterinnen und Richter.?In der Regel seien es Klagen gegen Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg, die in der Angelegenheit bei den Verwaltungsgerichten landeten. In rund 1000 Fällen, so Müller, handle es sich um sogenannte „Dublin-Verfahren“. Dabei sei zu entscheiden, ob ein Flüchtling, der einst über Polen, Italien, Griechenland nach Deutschland eingereist sei, dorthin zurückzuschicken sei.?In rund 2000 Fällen sei das VG involviert, wenn gegen eine Entscheidung des BAMF Rechtsmittel eingelegt würden. Am VG Augsburg erfolge dazu in der Regel eine Anhörung, die abschließende Entscheidung werde andernorts getroffen.?Müller half, die zugrunde liegenden Begrifflichkeiten zu klären: Demgemäß könne man den (1) Asylbegriff in Deutschland derzeit kaum anwenden. Der setze nämlich voraus, dass ein Flüchtling über den Luftweg einreise – ein Fall, der sehr selten vorkomme. Bedeutender für die Gerichte sei die (2) Flüchtlingseigenschaft, wenn jemand beispielsweise in seinem Heimatland politisch oder religiös verfolgt werde. Während sie im Falle von Syrern oft und von Afghanen früher häufiger anerkannt worden sei, treffe sie auf andere Nationalitäten wie etwa Gambier deutlich seltener zu. Einen (3) subsidiären Schutz gewähre die Bundesrepublik jenen Menschen, denen in ihrer Heimat die Todesstrafe drohen kann. Bei der großen Masse der Fälle bei Gericht gehe es um (4) Abschiebungsschutz aus gesundheitlichen Gründen, aus existenziellen Nöten.?Mit Abschiebungen habe das Augsburger Gericht eher selten zu tun. Aber wenn, dann seien es mit die schwierigsten Fälle, so Müller. Da habe man mit Menschen zu tun, die seit 20 Jahren in Deutschland sind – und das, obwohl sie kein Bleiberecht haben. Wer 20 Jahre da sei und nicht strafbar werde, würde praktisch nicht mehr abgeschoben, so Müller. Freilich komme es bei Fällen von terminierten Abschiebungen zu vielerlei Schwierigkeiten, die diese letztlich verhindern könnten. Nicht selten, dass dem Gericht gerade eine Stunde verbleibe, um über die Bedeutung eines kurzfristig vorgelegten Attests oder Gutachtens zu befinden.?Ein immer wiederkehrendes Problem sei das der ungeklärten Identität: Aus Pakistani würden Afghanen, aus Senegalesen Gambier. „Eine gambische Geburtsurkunde bekommt man immer“, berichtete der Richter aus seiner täglichen Arbeit. Schwaben, so Müller erhalte momentan vor allem Flüchtlinge aus Gambia, Nigeria und der Türkei zugewiesen, wohingegen beispielsweise Menschen aus dem Maghreb nach Nordrhein-Westfalen kämmen. Entsprechend habe das Augsburger Verwaltungsgericht quasi 

eine Federführung bei Entscheidungen über Menschen aus Gambia oder Nigeria. Die richterliche Entscheidung müsse immer wieder den Umständen angepasst werden (Beispiel: Demokratisierungsprozess in Äthiopien), könne dem Richter aber letzten Endes nicht genommen werden. 

Mehrfach betonte Müller die große Bedeutung der Identitätsklärung durch die Flüchtlinge oder zumindest die nachweisliche Mitwirkung dabei. Glaube er erfahrenen Anwälten, dann seien 50 Prozent der Betroffenen im Besitz eines Passes oder eines vergleichbaren Dokuments, aber verbergen dies aus bestimmten Gründen. Viele Flüchtlinge, so Müller, seien katastrophal schlecht beraten. Dabei bestrafe das Gesetz weniger den fehlenden Pass als die fehlende Mitwirkung. Leider glaubten sie oftmals mehr den Wortführern und Meinungsbildnern im Donauwörther Ankerzentrum oder gewisser Communitys als ihren Anwälten. Auch persönliche Betreuer oder Helferkreise seien oft wohl meinend, aber nicht immer auf dem neuesten Stand. 

Der Rat des Gerichtspräsidenten: Den Ausländerbehörden zu trauen, mit ihnen zu reden „was geht“. Behörden seien nicht generell darauf aus, den Flüchtlingen Ungutes zu wollen, außer bei Straftätern oder Identitätsverweigerern. 

Die Bedeutung der geklärten Identität unterstrich eine Mitarbeiterin der Industrie-und Handelskammer aus dem Kreis der Besucher: Ausbildungsstellen könnten nur bei geklärter Identität vermittelt werden. Als nahezu tragisch bezeichnete sie das Schicksal von kooperativen, einsichtigen (und chancenarmen) Flüchtlingen, die schnelle, oft ablehnende Bleibeentscheidungen erhielten. Es drohe der Verlust guter, williger Mitbürger und der Umstand, dass jetzt Verzögerer und Faule zu Nutznießern der Verfahren werden könnten. 

„Es gibt immer wieder ganz nette Menschen, wo man denkt, der täte uns hier gut, aber wir haben kein Gnadenrecht“, so der Gerichtspräsident. Aber es gebe eben auch ganz nette Ladendiebe. Es sei nicht die Aufgabe des Verwaltungsgerichts, eine von Helfern erbetene letzte Chance, zu gewähren. „Wir müssen prüfen, ob das rechtens ist, was die Ausländerbehörde macht.“?Gesellschaftlich werde erwartet, dass viele Flüchtlinge wieder nach Hause gingen. Nur wenige sind nach Müllers Einschätzung gut integriert, lernten, machen eine Ausbildung. In Bayern gebe es derzeit rund 30.000 Ausreisepflichtige. Längst nicht alle seien super ausgebildete junge Menschen. Es seien auch Faule darunter. 

Immer wieder zu beobachten seien regelrechte Epochen, wo Flüchtlinge mit bestimmten Behauptungen versuchten, sich ein Bleiberecht zu erwirken. Sei es die Konversion zu einer christlichen Kirche oder die Aussage, homosexuell zu sein (was in vielen afrikanischen Ländern unter Strafe stehe). In Gambia, nannte Müller ein Beispiel, zünde derzeit jeder Dritte den Wald an, weil mal jemand glaubte, das sei eine gute Geschichte für einen Richter. Übersehen werde bei dieser Aussage, dass auch, wer hierzulande einen Wald anzünde, belangt werde. Vonseiten türkischer Flüchtlinge seien derzeit vermehrt Aussagen zu hören, man stamme der unterdrückten Volksgruppe der Kurden an oder man sei Anhänger des als Staatsfeind verfolgten Predigers Gülen. Anders als in anderen Ländern habe man bezogen auf Türken in Deutschland als Gericht jedoch viel bessere Erkenntnismöglichkeiten. 

Müller rückte den Eindruck zurecht, dass es für seine Richterkollegen und deren Beförderung hilfreich sei, eine hohe Ablehnungsquote vorweisen zu können. Stimme nicht. So wisse er nichts über die Quoten seiner Kollegen. Wichtigstes Kriterium für ein Vorankommen als Richter sei die Unabhängigkeit. Bezogen auf den Umgang mit der Flüchtlingsproblematik nannte Müller das System, wie es in Deutschland angewandt werde, mit das Beste, was es gebe. 

Michael Siegel


Bild: Michael Siegel